von Fred Camper
1.
Der Blick1 durch die Frontscheibe eines fahrenden Autos ruft in vielerlei Hinsicht Erinnerungen ans Kino wach. Der Beifahrer schaut nach vorn auf ein rechteckiges Bild, völlig passiv vor dieser Aussicht, während der Fahrer - der sich selbst vielleicht als den freien, kontrollierenden Schöpfer von Ausblicken sieht - tatsächlich auch auf eine ziemlich kleine Bandbreite von Möglichkeiten beschränkt ist.
Er kann die Fahrbahn wechseln. Er kann die Geschwindigkeit variieren, aber nicht sehr. Seine einzige wirkliche Entscheidung liegt darin, von der Autobahn abzufahren, das "Theater" zu verlassen.
Unterwegs auf der Straße ist alles, was man sieht, bereits ausgewählt - von Autobahn-Planern, Landschaftsgestaltern, von denen, die Werbetafeln aufstellen oder von den Gesetzgebern, die sie in manchen Bundesstaaten verboten haben, von den Bauherren der anliegenden baulichen Strukturen.
Es gibt im wesentlichen zwei Arten von Fernstraßen. Die ältere, die vor allem vor den 60er Jahren gebräuchlich war, besteht aus zwei Fahrspuren, jeweils eine pro Verkehrsrichtung, ohne räumliche Abgrenzung zwischen ihnen. Häufig münden Seitenstraßen ein. Die Straße kann Eisenbahnschienen kreuzen - an solchen Stellen muß man nach Zügen Ausschau halten.
Oft gibt es langsame Fahrzeuge, z.B. Traktoren, die die Autos hinter ihnen dazu zwingen, die Geschwindigkeit zu drosseln. Autos, die sich auf der Gegenfahrbahn überholen, geraten immer wieder auf die jeweils andere Fahrbahn, man muß genau aufpassen, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Wenn solche Straßen durch Städte führen, dann meistens mitten durchs Zentrum. Die Umgebung ändert sich drastisch, und oft bleibt einem nichts übrig als anzuhalten. Wenn man auf solchen Straßen fährt, erlebt man ständig derartige Besonderheiten, auf die man reagieren muß.
1956 begann die US-Regierung ein Netz von "Interstate Highways" - Bundesautobahnen - zu bauen. Diese Straßen haben mindestens vier Fahrbahnen, zwei in jede Richtung, und die entgegengesetzten sind üblicherweise durch einen begrünten Mittelstreifen voneinander getrennt. Auf- und Abfahrten gibt es nur wenige. Es gibt keine Ampeln oder Eisenbahnkreuzungen. Durch Städte werden Interstates oft als Hochstraßen fortgesetzt. Fahrzeuge müssen eine Mindestgeschwindgkeit einhalten, meist um die 40 Meilen in der Stunde.
Natürlich gibt es für diese Straßen viele Vorläufer - die deutschen Autobahnen und einige US-Superhighways wie z.B. die gebührenpflichtige Schnellstraße in Pennsylvania, die in den 30er Jahren gebaut wurde. Aber erst das Interstate-Netz, sowie einige Staatsstraßen und städtische Schnellstraßen, die nach vergleichbaren Standards errichtet wurden, machten die Erfahrung des Autobahn- Fahrens zu einer universellen für die Amerikaner. Dieses Straßennetz, entworfen um alle Städte mit einer Einwohnerzahl von mindestens 50.000 zu verbinden, führt kreuz und quer durch die ganze Nation, in einem unregelmäßigen Raster, und mit drei Autobahnen (den Interstates 10, 80 und 90), die durchgehende Strecken mit kaum einer Ampel zwischen West- und Ost-Küste bieten.
Es wird gerne gesagt, daß das Fahren auf einer Autobahn all die verschiedenen amerikanischen Landschaften gleich aussehen läßt. Diese Beschwerde ist nicht ganz gerechtfertigt. Niemand könnte die I-25 in Wyoming mit der I-95 in New Jersey verwechseln, oder die I-80 in Pennsylvania mit derselben Autobahn in Utah. Keiner, der je auf der I-70 in Colorado in die Rocky Mountains gefahren ist, oder auf der I-80 durch den Donner Paß in Kalifornien, wird behaupten können, daß die Interstates die Dramatik der nordamerikanischen Landschaften völlig vernichtet haben.
Natürlich ist das Erlebnis auf einer Interstate zu fahren trotzdem völlig anders als das auf einer älteren, zweispurigen Fernstraße. Die aktive Wachsamkeit, die vom Fahrer dort gefordert wird, ist auf einer Interstate beinahe gänzlich unnötig geworden, und der Fahrer wird so auf eine fast gedankenlose Passivität reduziert. Die einzig realen Bedrohungen sind die anderen Fahrzeuge. Die Straße isoliert den Fahrer mehr oder weniger völlig von seiner Umgebung.
Es gibt keine scharfen Kurven, keine plötzlich von Seitenstraßen auffahrenden Autos, keine haltenden Fahrzeuge. Alle Kurven sind gut mit Böschungen ausgestattet, es gibt nur leichte Steigungen und Gefälle (was die raren Ausnahmen, wie die I-80 in den kalifornischen Sierras, umso dramatischer macht). Geteerte Randstreifen auf beiden Seiten der Fahrbahnen gewährleisten, daß ein Fahrer, der etwas von der Straße abkommt, sich noch immer auf glattem Asphalt befindet - was wiederum die Grenze zwischen Straße und Umgebung verwischt, ebenso wie die lineare, an die Autobahn angepasste Landschaftsgestaltung.
Die Interstate tut alles, um dem Fahrer Abwechslung zu verweigern. Der superhighway-Fahrer ist in einen Zustand abstumpfender Passivität gebettet. Kurven erfordern nur minimalste Regulierung der Lenkung, sie scheinen das Auto ohnehin von selbst zu steuern. Außer bei starkem Verkehr, bleibt die Geschwindigkeit konstant. Alles ist so angelegt, daß die Szenerie, die sich vor der Windschutzscheibe entfaltet, so einheitlich wie möglich bleibt. Moderne amerikanische Autos, mit ihrer weichen Stoßdämpfung, ihrer Automatik-Gangschaltung, Servolenkung und "Reisegeschwindigkeits-Regelung", die automatisch eine vorgegebene Geschwindigkeit beibehält, ohne daß der Fahrer irgendetwas tun muß, sind perfekt auf diese Straßen abgestimmt. Der Fahrer kann sich der Illusion größter Stärke hingeben, ein Hügel verlangt nicht mehr als einen leichten Fußdruck. Man kann von einer Straße auf eine andere wechseln. Die Tatsache, daß man auf einen kleinen, der Straße zugänglichen Teil des Landes beschränkt ist, oder daß man in einem modernen Auto auf einer modernen Autobahn eigentlich nur sehr wenig von der Geschwindigkeit spürt, ist nur wenigen bewußt - obwohl man das Gefühl von wirklicher, aktiver Bewegung eher beim Rollschuhfahren auf dem Gehsteig erlebt.
2.
Zwischen manchen Genres des amerikanischen Films und der Erfahrung mit verschiedenen Arten von Straßen gibt es eine merkwürdige Entsprechung. In einigen Epochen hat Hollywood Filmstile hervorgebracht, in denen die einzelnen Bilder eines Films stark voneinander unterschieden waren.
In den späten 20er Jahren, gegen Ende der Stummfilmzeit, zeigte sich der Einfluß des deutschen Expressionismus in Filmen wie Friedrich Wilhelm Murnaus Sunrise (1927) oder John Fords Four Sons (1928), und zwar in einer Kombination aus komplexen Kamerabewegungen und sorgfältig komponierten Bildern, deren Ausleuchtung, reich an Variationen, den Zuschauer gewissermaßen zum Denken aufforderte: über die Unterschiede zwischen Vergangenheit und Gegenwart oder zwischen Gut und Böse.
In den späten 40er und den 50er Jahren gab es im film noir (der selbst zum Teil vom deutschen Expressionismus abstammt) eine Fülle von Bildern, deren komplexes Chiaroscuro (Spiel von hell und dunkel) den Zuschauer zumindest ein-, zweimal blinzeln läßt, bevor er die Komposition erfaßt. Robert Aldrichs Kiss Me Deadly (1955) - vielleicht der größte aller films noirs - Lobeshymne und Kritik auf die amerikanische Obsession für Autos, Geschwindigkeit, Geld und Tod in einem, beginnt mit einer Nacht-Szene auf einer zweispurigen Provinz-Autobahn. Der intensive visuelle Kontrast von schwarz und weiß eignet sich geradezu perfekt um eine Straße darzustellen, die im Gegensatz zu einem superhighway voller Bedrohungen steckt, sei es von vorne, von hinten und von den Seiten. Außerdem wird man daran erinnert, daß eine absolute Differenz von Richtig und Falsch existiert, auch wenn der Film es oft schwer macht zu erkennen, welches von beiden welches ist.
Von den 20er bis durch die 50er Jahre waren die meisten Hollywood-Filme aus einer Mischung von statischen Kompositionen, Schwenks und Einstellungen, in denen sich die Kamera tatsächlich durch den Raum bewegte, konstruiert. Sogar in den allerdümmsten Filmen bemerkt man den Unterschied zwischen statischen und bewegten Einstellungen, die eine gewisse visuelle Dramatik schaffen, weil sich fortwährend die Perspektive ändert, von der aus die Szene betrachtet wird. Gleichzeitig mit der Entwicklung des film noir entstand eine amerikanische Avant-Garde-Film Praxis. Filme wie Kenneth Angers Fireworks (1947) und Stan Brakhages Anticipation of the Night (1958) basieren auf dramatischen Unterscheidungen zwischen den diversen Arten von (Bild)Kompositionen und (Montage)Rhythmen, die sie enthalten und mit denen sie den Zuschauer aus einer zufriedenen Selbstgefälligkeit rütteln und seine aktive Beteiligung verlangen. Avant-Garde Filmemacher haben sich gelegentlich mit dem Thema der Straße beschäftigt. Eine lange Einstellung in Bruce Baillies Mass (1963) folgt einem Motorradfahrer, der sich der San Francisco-Bay Brücke nähert und sie dann überquert. Diese Brücke ist der Endpunkt der I-80, die sich von New York bis nach San Francisco erstreckt und damals gerade gebaut wurde. Man sieht nur den Motorradfahrer, die Brücke und den Himmel, nichts von der übrigen Landschaft, und die Einstellung beschreibt so die Monotonie des Autobahn-Fahrens selbst an diesem ziemlich spektakulären Schauplatz. Für Transparency (1969) stellte der Filmemacher, Ernie Gehr, seine Kamera neben der alten Westside-Autobahn in New York auf. Die erhöhte sechspurige Anlage, inzwischen abgerissen, ihre engen Fahrbahnen und zahlreichen Biegungen und Kurven, waren weit unter Interstate-Standard. Wir sehen zwar nichts von der Straße, aber dafür Autos, die plötzlich auf dramatische Weise das Bildfeld füllen, jedes ein momentaner verschwommener Fleck in beinahe durchsichtiger Farbe.
Jedes Auto tritt abrupt ein, mit der Gewalttätigkeit mit der ein vorbeifahrendes Auto, aus der Perspektive eines am Straßenrand stehenden Betrachters, den Raum, den es passiert, durchsticht, in ihn eindringt und sich kurz in ihn einordnet. Auch wenn der Fahrer nur die glatte Geschmeidigkeit seiner Fenster-Aussicht wahrnimmt.
3.
In den 60er Jahren fing das Hollywood-Kino an sich zu verändern. Das Fernsehen, das die Mogule in den 50er Jahren noch mit Breitwand, 3-D-Verfahren und ähnlichem abzuwehren versuchten, war zu diesem Zeitpunkt bereits eine bedeutende wirtschaftliche Macht auf dem Sektor der Bild-Produktion. Die Einkünfte aus dem Verkauf von Filmrechten ans Fernsehen (und später an Kabelgesellschaften und Videoproduzenten) wurden zu einer Haupt-Einnahmequelle der Filmstudios, und teilweise sogar höheren Einnahmen als jene aus den Kinovorführungen. Regisseure und Kameraleute begannen ihre Filme in dem Bewußtsein zu machen, daß sie von mehr Menschen auf Video als im Kino gesehen würden. In Kamera-Suchern wurde innerhalb des (1,66:1 oder größeren) Filmbild-Formats ein ovaler "TV-tauglicher Aktionsradius" markiert. Kontraste in der Lichtsetzung wurden mit Rücksicht auf ihre eingeschränkte Wiedergabemöglichkeit auf Video allmählich zurückgenommen.
Dieser neue Stil des Filmemachens wurde weniger von den Vermögen des projizierten Filmbildes bestimmt, als von der Beschränktheit des TV-Bildschirms. Video ist offenkundig kaum in der Lage räumliche Tiefe zu suggerieren. Alle Bildebenen fallen tendenziell in eine. Licht-Kontraste und feine Details, also die Dinge, die dabei helfen einen Bereich des Bildes von einem anderen zu unterscheiden, lassen sich nicht gut aufs Fernsehen übertragen. Kamerabewegungen im Raum verlieren viel von ihrer Intensität und wegen der verminderten Fähigkeit des Mediums Video Tiefeneffekte wiederzugeben, unterscheiden sie sich kaum noch von Zooms.
Detailaufnahmen wie close-ups oder Nahaufnahmen von Gesichtern und Gestalten entsprechen Video schon eher; ebenso eine Lichtsetzung, die die Bereiche eines Bildes weich ineinander übergehen läßt, und der parallele Einsatz von Schwenks und Zooms an Stelle von Kamerabewegungen im Raum. Letztere Kombination tendiert dazu, den Raum in sich zusammenfallen zu lassen und zu verdichten, eine Art der künstlichen Bewegung auf etwas hin zu erschaffen, das scheinbar größer wird, ohne daß man sich ihm real annähert. Eine mechanische Schein-Bewegung nach vorne, der Aussicht auf eine Autobahn durch die Windschutzscheibe nicht unähnlich. Der gesamte visuelle Raum von Hollywood-Filmen in den vergangenen Jahrzehnten enthält keine fein geschliffenen und artikulierten Unterscheidungen mehr zwischen einzelnen Bildbereichen, er ist eine Art wirrer, unzusammenhängender Brei geworden. Wirklicher Raum, wirkliche Distanz und wirkliche Unterschiede wurden von einer platten, alles begrabenden Stil-Losigkeit ausradiert.
Autobahnen und Hollywood-Produktionen sind zwei der wesentlichsten Mittel durch die Amerikaner die Welt erfahren. Beide plazieren den Zuschauer ins Zentrum eines Netzwerks, das ihn mit fast nahtloser Bewegung umgibt, und Unterschiede so in eine scheinbare Kontinuität zusammenfallen läßt, in ein formloses Vakuum, in den kein realer Gedanke eintreten darf.
Beide verankern die Welt - die Landschaft um die Autobahn und die angeblich "realen" Charaktere des Spielfilms - in einem Raum, der keine substantiellen Koordinaten hat, einem Spiel, das bloß von seiner eigenen mechanischen Energie betrieben wird.
Diese Lüge von einer Bewegung ohne Folgen kann nur durch die Verletzung der Wahrheit erreicht werden. In der realen Welt, die parallel zur filmischen Fiktion existiert, werden reale Menschen, keine Zelluloid-Fragmente, manchmal umgebracht. Es gibt Unterschiede, und es gibt Ideen in dieser realen Welt. Es gibt ethische Grundsätze, nach denen wir uns selbst und andere richtig (oder falsch) einschätzen können. Die Reibungslosigkeit einer Autobahnfahrt schließlich wird in der realen Landschaft nur zu einem hohen Preis erreicht.
1972 fuhr ich 200 Meilen alleine mit dem Fahrrad von New York nach Boston. Auf halber Strecke erreichte ich eine Landhöhe nahe Willimantic in Mittel-Connecticut, von wo aus ich bis in ein Tal viele Meilen weit weg sehen konnte. Ich traf auf eine scheußliche chaotische Wunde in einer sonst sanften Landschaft, die sich vor mir ausbreitete. Überall waren Erdhügel aufgehäuft, schwere Geräte am Werk. Es handelte sich um die Bauarbeiten für eine Erweiterung der Interstate 84, einer Autobahn, deren Marsch nach Osten in Hartford beendet gewesen war, so dachte ich. Aus der Perspektive eines einsamen Radfahrers, der jede Unebenheit, jede noch so kleine Steigung und jedes Gefälle des Bodens in seinen strampelnden Füssen und Beinen spürt, glich diese klaffende Wunde einer Höllenvision - eine gewaltige Umschichtung von Erdmassen, eine imperialistische Neuordnung des Landes, eine maschinell erzeugte Landschaft, die Amerikas weite Räume bedeckt, unterwirft, glättet, erobert und erstickt. Man kann nur erahnen, wieviel vom ursprünglichen "Boden" der amerikanischen Seele ebenfalls umgestaltet oder sogar ausgelöscht worden ist, von all der hirnbetäubenden hypnotischen visuellen Nahrung, die uns mit jedem neuen kommerziellen Produkt von den Mega-Medien-Konglomeraten aufgetischt wird.
Übersetzung/Bearbeitung Isabella Reicher
1 Das englische Wort view umfaßt eine Bandbreite deutscher Entsprechungen, die von Sicht, Ansicht, Aussicht, Bild, bis Auffassung reichen. Dieser Vielfalt wurde durch die Verwendung des jeweils aus dem Sinnzusammenhang sich ergebenden deutschen Ausdrucks Rechnung getragen. (Anm. I.R.)